Kivobe - (geflüchteten) Kindern vorurteilsbewusst begegnen

Datum
08.10.2018

Bei der Integration von Kindern mit Fluchtgeschichte in den Kitaalltag steht das pädagogische Personal vor unterschiedlichen Herausforderungen. Zum einen müssen diese ggf. traumatisierten Kinder pädagogisch sinnvoll aufgenommen und begleitet werden. Zum anderen sind die Erzieherinnen und Erzieher damit konfrontiert, sich mit vielfältigen Formen von Vorurteilen und deren Auswirkungen in ihrem pädagogischen Alltag auseinanderzusetzen. Um die Beschäftigten dabei zu unterstützen, werden in insgesamt 16 Pilot-Kitas in Oberbayern und Thüringen Erzieherinnen und Erzieher für diese neuen pädagogischen Anforderungen fitgemacht. Unter anderem werden sie zu dem von der Fachstelle Kinderwelten entwickelten Ansatz der vorurteilbewussten Bildung und Erziehung geschult und bei der ersten Umsetzung der Konzeptansätze in die Praxis unterstützt.

Ein Fokus liegt auf der Reflexion der Zusammenarbeit mit Familien mit und ohne Fluchtgeschichte. Über den Pilotansatz hinaus entsteht ein Qualifizierungskonzept, dessen Inhalte Niederschlag in der Rahmenkonzeption der Bezirks- und Landesverbände finden. Das Projekt wird seit 01. März 2017 im ESF-Programm rückenwind+ gefördert.

Im folgenden Interview der Regiestelle des Programms rückenwind+ erläutert der Projektleiter Lucas Kriegbaum die Notwendigkeit des Projekts und gibt Empfehlungen für vergleichbare Projekte. Susann Köditz, Leiterin in der Kindertagesstätte "Sonnenschein" Ilmenau, die an dem Projekt vor Ort und den Qualifizierungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung teilnimmt, berichtet über ihre Erfahrungen.

Herr Kriegbaum, Sie sind seit März 2017 Projektleiter von Kivobe im ESF-Programm rückenwind+. Was hat das Projekt notwendig gemacht?

Die Gesellschaft wird aktuell etwa durch den Wandel der Arbeitswelt, demografische Veränderungen, Globalisierung, Digitalisierung, Zuwanderung sowie heterogene Lebens- und Familienkonzepte immer komplexer und vielfältiger. Zeitgleich finden in der Öffentlichkeit und in der Fachwelt ganz unterschiedliche Diskussionen zum Umgang mit dieser Heterogenität statt. Die Positionen bewegen sich hier von einer strikten Ablehnung bis hin zur bedingungslosen Befürwortung von Vielfalt. Im rückenwind+-Projekt "Kivobe" sehen wir unsere Aufgabe darin, Mitarbeitende des Arbeitsfeldes Kindertagesbetreuung dabei zu begleiten, Vielfalt als Chance zu sehen, allen Kindern einen guten Start in das Leben zu ermöglichen sowie einen wertschätzenden Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen, Familien und Kindern zu finden.

Was bedeutet das konkret für die Arbeit von Beschäftigten in Kindertagesstätten?

Erzieherinnen und Erzieher stehen täglich vor der Anforderung, mit der Heterogenität von Kindern, Familien und ihren Lebenslagen umzugehen und natürlich auch Diskriminierung zu verhindern. Gleichzeitig müssen sich aber auch Fachberatungen, Leitungskräfte und pädagogisches Personal selbst zu Vorurteilen, Diskriminierung und Privilegien/Nachteilen und ihren Funktionsweisen hinterfragen und sich Wissen aneignen. Wir unterstützen mit "Kivobe" dabei, einen reflektierten Umgang mit Vorurteilen sowie Diskriminierung zu finden.

Frau Köditz, Sie sind seit 2010 Kita-Leiterin der AWO Kita "Sonnenschein" in Ilmenau. Warum nehmen Sie an Kivobe teil?

Zur Auftaktveranstaltung von "Kivobe" wurde mir bewusst, wie wichtig dieses Thema auch in unserer Einrichtung ist. Seit Mai 2016 haben wir verstärkt Flüchtlingskinder in unserer Kita, vorwiegend aus Syrien, aber auch aus dem Irak, Afghanistan, Albanien, Kosovo und Tschetschenien. Die größte Herausforderung ist erst einmal die sprachliche Verständigung. Es geht dann aber weiter, etwa dass Väter uns als Erzieherinnen nicht akzeptieren und sich nicht an die Bring- und Abholzeiten halten. Es ist mit der Bereitstellung des Essens oft nicht einfach, weil wir kein geschächtetes Fleisch anbieten. Auch bei täglichen Routinen, wie dem Toilettengang, duschen etc. sind bestimmte Abläufe durch familiäre Prägung sehr verschieden. Bei vielen Kolleginnen und Kollegen erzeugt das Verunsicherung und auch Stress. Es stellt sich für uns oft die Frage, wie weit berücksichtigen wir kulturelle Besonderheiten und wie weit können wir bestimmte Sachen, die in unseren Kitaalltag gehören, auch von den Eltern verlangen.

Was hat sich durch die Teilnahme an Kivobe für Sie verändert?

Wichtig war für mich das Grundlagenwissen. Also was alles zu Diskriminierung gehört, wie viel Wissen nötig ist, um so wenig wie möglich Vorurteile zu haben und wie ich dies praktisch anwende. Jetzt bin ich daran, dieses Wissen an mein Team heranzutragen. Ich habe aber auch schon gemerkt, dass das ein langer Prozess ist, nach dem Motto "steter Tropfen höhlt den Stein". Es ist sehr schwer bei dem geringen Personalschlüssel diesen Anforderungen mit viel Geduld gerecht zu werden. Auf alle Fälle kann ich für mich sagen, dass mir viele Sachen zwar noch nicht immer gelingen, aber mir in dem Moment des Tuns bewusstwerden.

Herr Kriegbaum, Sie feiern gerade "Bergfest" mit dem Projekt. Wie geht’s jetzt weiter?

Seit September 2017 begleiten wir die Kitas individuell und haben mit den Teams, Fachberatungen und Leitungen gemeinsam Ziele und dazugehörige bedarfsspezifische Maßnahmen entwickelt. Dazu gehört unter anderem die von der Fachstelle Kinderwelten durchgeführte Schulung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Wir wollen aus den Erfahrungen, dem Wissen und den Methoden ein Curriculum für eine Fortbildung entwickeln, welches wir noch innerhalb der Laufzeit erproben. Es soll eine Broschüre entstehen, die unsere Expertise aus dem Projekt für weitere Einrichtungen nutzbar macht. Und wir wollen mit unseren Inhalten gezielt Fachberatungen erreichen. Diese haben eine Schlüsselfunktion inne. Sie sind verantwortlich für die (Weiter-)Entwicklung von Qualität in den Kitas und wirken an der Außenvertretung der kitarelevanten Themen mit.

Frau Köditz, was sagen Ihre Kolleginnen? Was bedeutet Ihre Teilnahme für das Team?

Das Team ist auf der einen Seite sehr gestresst, weil ich in den Fortbildungszeiten im Gruppendienst ersetzt werden muss. Auf der anderen Seite sind sie dankbar für die Tipps und Hinweise, die ich ihnen geben kann. Im Moment sehen sie darin nicht immer eine Arbeitserleichterung, weil sie sagen, dass das nicht umsetzbar ist mit dem geringen Personal. Sie haben aber auch den Wunsch geäußert, noch mehr Wissen haben zu wollen, z. B. zum Umgang mit traumatisierten Kindern. Dazu findet jetzt eine Inhouse-Weiterbildung statt.

Herr Kriegbaum, was können Sie anderen empfehlen, die vergleichbare Projekte umsetzen wollen?

Bezogen auf die Organisation und Projektplanung würde ich empfehlen, dass sie sich im Vorfeld mit den Bedarfen vor Ort auseinandersetzen und Personen aus der Praxis in die Entwicklung des Projektes einbeziehen. Mein Tipp ist, dann während des Projekts im stetigen Austausch mit allen Beteiligten zu bleiben.
Bezüglich des Inhalts ist es meinen Erfahrungen nach zentral zu begeistern und auch wiederholt zu motivieren, wie es Frau Köditz beschreibt.
Zudem sollten sie damit rechnen, dass Themen wie Inklusion, Rassismus, Diskriminierung und Reflexion Widerstände auslösen, mit denen sie konstruktiv umgehen müssen. Ansonsten sehen wir uns im Projekt auch in der Rolle der Lernenden. Durch Rückmeldungen und Bedarfsabfragen können wir eine Menge neuer Erfahrungen sammeln.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das ESF-Programm rückenwind - Für die Beschäftigten und Unternehmen in der Sozialwirtschaft (kurz: rückenwind+) ist ein im Jahr 2015 gestartetes Förderprogramm zur Fachkräftesicherung in sozialen Berufsfeldern. Ansatzpunkt ist die Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen und Verbänden der gemeinnützigen Sozialwirtschaft. Ziel der Förderung ist die Verbesserung der Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Beschäftigten in der Sozialwirtschaft in Verbindung mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Organisationsstrukturen in den Einrichtungen, Diensten und Verbänden. Das Förderprogramm wurde gemeinsam vom BMAS und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) entwickelt. Gefördert wird es aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und aus Bundesmitteln. 46,5 Millionen Euro stehen aktuell zur Erprobung innovativer Ideen und Konzepte zur Verfügung. In den ersten vier Aufrufen sind 87 Projekte an den Start gegangen. Aktuell läuft noch bis 21.09.2018 das fünfte Interessenbekundungsverfahren für eine Förderung in rückenwind+.

Weitere Informationen zum Programm rückenwind+ finden Sie auf der Website der Regiestelle.
Kontakt: regiestelle@bag-wohlfahrt.de