Fachsymposium am 29. März in Leipzig: "Kollektivrecht für Solo-Selbstständige - Möglichkeiten, Grenzen und Reformbedarf"

Datum
22.06.2023

Kollektive Handlungsformen für Solo-Selbstständige waren Thema beim juristischen Fachsymposium des "Hauses der Selbstständigen (HDS)" in Kooperation mit dem Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung am 29. März 2023 in Leipzig. Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis diskutierten über die Chancen Solo-Selbstständiger, sich gemeinsam für angemessene Vertragsbedingungen einzusetzen und diese auch rechtlich durchzusetzen.

Eine neue EU-Leitlinie eröffnet hier neue Möglichkeiten für diese Gruppe Erwerbstätiger, von denen es deutschlandweit knapp zwei Millionen gibt. Rund 100 Teilnehmer*innen nahmen an dem Fachsymposium "Kollektivrecht für Solo-Selbstständige - Möglichkeiten, Grenzen und Reformbedarf" teil - knapp die Hälfte davon war live dabei, die anderen verfolgten die Veranstaltung im Livestream. Der Teilnehmendenkreis setzte sich zusammen aus Jurist*innen, Verbands-, Initiativen- und Gewerkschaftsvertreter*innen sowie Solo-Selbstständigen.

Im Zentrum des Symposiums standen die Fragen: Wie können Solo-Selbstständige ihren Anliegen Gehör verschaffen? Wie ihre Interessen wirksam vertreten? Sollen bzw. können sie sich dazu zusammenschließen? Und: Dürfen sie das überhaupt? Was sind die Möglichkeiten und Grenzen? Als Einstieg gab Politikwissenschaftlerin PD Dr. Karin Schulze Buschoff von der Hans-Böckler-Stiftung einen Überblick über die Entwicklung der Solo-Selbstständigkeit in Deutschland. Sie beschrieb die Bedingungen, unter denen Solo-Selbstständige arbeiten und benannte Defizite in der Vergütung und der sozialen Absicherung. Obgleich die Probleme seit Jahren bekannt seien, so Schulze Buschoff, arbeiteten Solo-Selbstständige mehr, verdienten weniger und am Ende drohe vielen von ihnen die Altersarmut. Es sei keine Überraschung, dass die Corona-Pandemie Solo-Selbstständige besonders hart getroffen habe. Insbesondere die Einbeziehung in die sozialen Sicherungssysteme - in vielen Nachbarländern längst vollzogen - sei völlig unzureichend, argumentierte Schulze Buschoff. Zudem bestimme die Debatte um Scheinselbstständigkeit weitgehend den arbeitsrechtlichen Diskurs. Oft sei es wie im Märchen von Hase und Igel: Arbeit-/Auftraggeber*innen seien immer einen Schritt voraus, wenn es darum gehe, Umgehungsmöglichkeiten für arbeitsrechtliche Verpflichtungen zu finden. Hoffnung setzt Schulze Buschoff in eine Initiative der EU-Kommission zur Verbesserung der kollektiven Verhandlungsmöglichkeiten von Solo-Selbstständigen, die im September 2022 verabschiedet wurde. Diese gelte es zu nutzen.

Eine Frau steht an einem Rednerpult
Politikwissenschaftlerin Karin Schulze Buschoff vom Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung © Manhardt/HDS

Praxisansätze aus gewerkschaftlicher Perspektive

Veronika Mirschel vom Referat Selbstständige beim Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gab einen Überblick über Ansätze kollektiver Regelungen für Selbstständige. In ver.di sind ca. 30.000 Solo-Selbstständige mehrheitlich aus dem Medienbereich, aber zunehmend auch aus anderen Branchen organisiert. Einige Erfolge seien bereits erzielt worden: Dazu gehörten Honorarumfragen, die Orientierung geben können, gemeinsame Vergütungsregeln im Urheberrecht, Altersversorgungswerke im Rundfunk, Verwertungsgesellschaften - allerdings allesamt versehen mit einem "aber", weil nicht alle Solo-Selbstständigen von diesen Regelungen erfasst werden könnten und sie damit auch unzureichend seien. Wichtig wären Tarifverträge, die die Vergütung und weitere Bedingungen regeln: Urlaubsentgelt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Schutz bei Kündigungen in Form von Ankündigungsfristen und Abstandszahlungen und vieles mehr. Möglich sind Tarifverträge für sogenannte arbeitnehmerähnliche Personen, die wie Arbeitnehmer*innen wirtschaftlich abhängig und sozial schutzbedürftig sind im Rahmen des § 12a TVG (Tarifvertragsgesetz). Diese Regelung war 1974 von der damaligen Industriegewerkschaft Medien (einer der Vorgängergewerkschaften der ver.di) für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk durchgesetzt worden. Das war damals der Bereich, in dem Selbstständige in relevanter Zahl arbeiteten. Die Arbeitswelt habe sich aber gravierend verändert: Heute sind Solo-Selbstständige in ganz unterschiedlichen Branchen und in vielen Berufen tätig. Vom §12a TVG werden die meisten nicht erfasst, Tarifverträge sind für sie nicht möglich. Auch das Mindestlohngesetz, so Veronika Mirschel, helfe Selbstständigen nicht. Sie machte deutlich, wie viele unterschiedliche Kostenfaktoren Selbstständige in ihre jeweilige Vergütung einrechnen müssen, damit sie ein angemessenes Honorar erzielen. ver.di fordert statt eines gesetzlichen Mindesthonorars für Solo-Selbstständige deshalb differenzierte branchenspezifische Basishonorare, da es nicht möglich sei, einen einheitlichen Stundensatz für jede Form selbstständiger Tätigkeit zu definieren.

Publikum in einem Veranstaltungsraum
Veronika Mirschel, Leiterin des Referats Selbstständige bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di © Manhardt/HDS

Großer Reformbedarf für kollektivrechtliche Regelungen

Der Reformbedarf kollektivrechtlicher Regelungen sowie die bereits erwähnte EU-Leitlinie bestimmten den zweiten Teil der Veranstaltung. Das "HDS" hatte dazu ein Gutachten zum Reformbedarf kollektivrechtlicher Regelungsmöglichkeiten beauftragt, das Prof. Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences, vorstellte. Wedde argumentierte, dass der Paragraf 12a TVG in seiner gegenwärtigen Fassung nicht mehr den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt entspricht. Nicht nur Plattform-Beschäftigte fielen nicht unter diese Begriffsbestimmung: Selbstständige gelten nicht mehr als schutzbedürftig, wenn sie für mehrere Auftraggeber arbeiten. "Die Folge davon ist, dass Tarifverträge für sie nicht geschlossen werden können", erklärte der Experte.

Ein Mann steht an einem Rednerpult
Arbeitsrechtler Prof. Dr. Peter Wedde von der Frankfurt University of Applied Science © Manhardt/HDS

Neue EU-Leitlinie: Tarifverträge auch für Solo-Selbstständige und Plattformbeschäftigte

Das zentrale Problem der bisherigen Anwendung des Wettbewerbsrechts war, dass sowohl die EU-Kommission als auch der europäische Gerichtshof (EuGH) alle Selbstständigen als Unternehmen betrachten. Der Essenslieferant oder die Dozentin an einer Volkshochschule waren nach dieser Auffassung genauso Unternehmen wie Google oder Daimler-Benz und unterlagen im Hinblick auf das Wettbewerbsrecht den gleichen Regeln. Das erscheint hinlänglich absurd, denn es ist nicht nur eine Leugnung der Realität des Arbeitsmarkts, sondern auch ein zentraler Angriff auf die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit. Die EU-Kommission erkennt nun in ihren neuen Leitlinien weitgehend die Notwendigkeit an, auch für Solo-Selbstständige und Plattformbeschäftigte Tarifverträge zu ermöglichen.

Um das Verhältnis dieser neuen EU-Leitlinien zur Rechtsprechung des EuGHs, deren Reichweite sowie die sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die Praxis der Interessenvertretung von Solo-Selbstständigen drehte sich die von Prof. Olaf Deinert moderierte Podiumsdiskussion mit Prof. Peter Wedde, Prof. Achim Seifert von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Christian Riechert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem ver.di-Justiziar Valentin Döring. Prof. Seifert warnte, dass die EU-Leitlinien den EuGH nicht binden - dieser also immer noch an seiner neoliberalen Auffassung festhalten und Verhandlungen und Vereinbarungen, die nicht dem 12a TVG entsprechen, verbieten könnte. Er wies aber gleichzeitig darauf hin, dass nur "die mutige Inanspruchnahme von Rechten" diese auch sichere.

Eine Podiumsdiskussion
v.l.n.r.: Moderator Olaf Deinert von der Uni Göttingen, Prof. Dr. Achim Seifert von der Universität Jena und Valentin Döring, Justiziar im ver.di-Bereich Rechtspolitik © Manhardt/HDS

Neue Möglichkeiten mutig nutzen

Das Fazit der Diskussion, an der sich sowohl das vor Ort anwesende als auch das online teilnehmende Publikum rege beteiligte, war das folgende: Es gibt einen großen Reformbedarf für den Gesetzgeber, um die Möglichkeiten für Tarifverträge an die Realitäten der Arbeitswelt und an die EU-Leitlinien anzupassen. Und: Über die Möglichkeit zu Tarifverträgen über den 12a TVG hinaus, machen die EU-Leitlinien den Weg frei für kollektive Verhandlungen und Vereinbarungen für wirtschaftlich schutzbedürftige Solo-Selbstständige.
Das "HDS" wertet das Ergebnis des Symposiums als Bestätigung und Auftrag: Es sieht sich bestätigt, weiter daran zu arbeiten, Solo-Selbstständige und Verbände zu vernetzen, für kollektive Verhandlungen zu werben und sie zu unterstützen, mit ver.di und anderen Gewerkschaften sowie Verbänden von Selbstständigen und der Wissenschaft für eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Solo-Selbstständigen zusammen zu arbeiten.

Die gesamte Veranstaltung ist bis zum 12. Mai 2023 als Video auf der HDS-Webseite verfügbar, die PDFs der einzelnen Vorträge ebenfalls.

Das ESF Plus-Programm "Zukunftszentren - Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen und Beschäftigten bei der (Weiter-)Entwicklung und Umsetzung innovativer Gestaltungansätze zur Bewältigung der digitalen Transformation" (kurz: "Zukunftszentren")

Das "Haus der Selbständigen (HDS)" wird im Rahmen des ESF Plus-Programms "Zukunftszentren" durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds gefördert.

Mit dem Programm "Zukunftszentren" soll an die Erkenntnisse und Ergebnisse des ESF-Förderprogramms "Zukunftszentren" (2014-2020) in den ostdeutschen Bundesländern und des Bundesprogramms "Zukunftszentren (KI)" in den westdeutschen Ländern und Berlin angeknüpft werden. Das Programm soll deutschlandweit ausgeweitet und weiterentwickelt sowie eine bundesweit einheitliche Förderstruktur etabliert werden.

Im Wesentlichen richtet sich das Programm an drei Zielgruppen: an Unternehmen, insbesondere KMU, an ihre Beschäftigten sowie an Selbstständige, insbesondere Solo-Selbstständige. Es zielt darauf ab, die Selbstlern- und Gestaltungskompetenz der drei Zielgruppen in den Transformationsprozessen zu fördern und ihre Leistungs- und Innovationsfähigkeit zu erhalten und zu stärken. Über diese drei Hauptzielgruppen hinaus haben grundsätzlich alle Unternehmen bundesweit Zugang zu den Fördermaßnahmen. Die relevanten Erkenntnisse, die im Rahmen des Förderprogramms gewonnen werden, werden sukzessive veröffentlicht und stehen so allen in der Arbeitswelt in Deutschland zur Verfügung.

Im Rahmen des Programms werden "Regionale Zukunftszentren", ein "Koordinierendes Zukunftszentrum" und ein "Haus der Selbstständigen" (Handlungsschwerpunkte) als Kompetenz-, Vernetzungs-, und Beratungszentren zur Bewältigung des insbesondere digital getriebenen Wandels der Arbeitswelt gefördert.

Qualifizierung im Betrieb neu denken und erproben

Mit dem Programm "Zukunftszentren" unterstützen das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Europäische Union über den Europäischen Sozialfonds (ESF Plus) Unternehmen, insbesondere KMU, und Beschäftigte gezielt dabei, die großen Veränderungsprozesse, die sich beispielsweise aus der Entwicklung Künstlicher Intelligenz oder anderen Technologien ergeben, zu bewältigen und vor allem sozial zu gestalten. Qualifizierung im Betrieb soll neu gedacht und erprobt werden - immer mit dem Ziel, die Selbstlern- und Gestaltungskompetenz zu fördern. Mit innovativen Konzepten zur Weiterbildung im Betrieb sollen beispielsweise digitale Kompetenzen in Unternehmen gefördert werden. Denn Digitalisierung verändert die Tätigkeiten und Anforderungen in allen Berufen. Die Angebote sollen im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes Aspekte des demografischen Wandels, der ökologischen Nachhaltigkeit, der Innovation, der Chancengleichheit und Förderung von Diversität berücksichtigen.

Weitere Informationen zu dem Programm finden Sie auf der Website des BMAS sowie auf dem ESF-Webportal.

Auszug aus dem ESF-Newsletter