3. Jahrestagung rückenwind+: "Vom Strukturwandel zum Kulturwandel - Digitalisierung, Vielfalt und Innovation in Unternehmen der Sozialwirtschaft"
- Datum
- 24.07.2019
"Vom Strukturwandel zum Kulturwandel - Digitalisierung, Vielfalt und Innovation in Unternehmen der Sozialwirtschaft" - unter diesem Titel fand am 23. Mai 2019 in Berlin die 3. Transfertagung des ESF-Programms "rückenwind+ - Für die Beschäftigten und Unternehmen in der Sozialwirtschaft" (kurz: rückenwind+) statt.
Mehr als 90 Gäste aus "rückenwind+"-geförderten Projekten, den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, der Wissenschaft und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales nutzten den Tag, um Ideen zu sammeln, Strategien auszutauschen und zu diskutieren, wie ein Kulturwandel in sozialwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen gelingen kann. Das Ziel: Lösungen zu finden, wie Dienste und Einrichtungen sich verändern müssen, um auch zukünftig genügend Fachkräfte zu gewinnen - oder zu behalten.
Deutlich wurde in den vier thematischen Dialogforen ("Personalkultur", "Lernkultur", "Unternehmenskultur", "Innovationskultur") und einer offenen Plenardiskussion vor allem, wie viel Expertise in vielen Organisationen zu den drei zentralen Handlungsfeldern der Tagung - Digitalisierung, Vielfalt und Innovation - bereits vorhanden ist. Die "rückenwind+"-Projekte, die auf der Tagung ihre Ansätze zur Diskussion gestellt haben, erproben Lösungswege, um über digitalgestützte Weiterbildungsangebote Beschäftigte passgenauer für Qualifizierungen zu gewinnen. Es entstehen Social Media-basierte Anwerbekonzepte, um qualifizierte Fachkräfte auch für abgelegene, ländliche Regionen zu interessieren. Selbstorganisierte Pflegeteams starten in die Erprobungsphase. Und es gibt erste Kooperationen mit externen Partnern aus der Wissenschaft, um die Chancen von Zukunftstechnologien in sozialen Arbeitsfeldern auszuloten und weiterzuentwickeln.
Die 123 Förderprojekte, die "rückenwind+" aktuell unterstützt, nehmen deshalb eine zentrale Multiplikationsfunktion für die Sozialwirtschaft wahr. Über 32.000 Beschäftigte in mehr als 1.600 Unternehmen profitieren derzeit aktiv von der Teilnahme an geförderten Angeboten. Ein Tropfen auf den heißen Stein bei rund 120.000 Einrichtungen in der Freien Wohlfahrtspflege insgesamt. Auf der "rückenwind+"-Tagung wurde dieser Tropfen genährt, es wurden Visitenkarten getauscht und Anknüpfungspunkte sondiert, die helfen sollen, eine attraktive Arbeitswelt 4.0 für die Sozialwirtschaft zu gestalten.
Der ESF als Motor einer Arbeitswelt 4.0
Dass es dabei um mehr geht als um formale Strukturanpassungen im Organigramm oder vereinzelte Arbeitsprozesse, darin waren sich alle Tagungsgäste einig. Gefragt sei ein viel radikalerer Umbruch, der Haltungen, Werte und altgediente Rollenmuster infrage stellt und Bedarfe der Unternehmen und ihren Beschäftigten gleichermaßen berücksichtigt, so ein Ergebnis der Diskussionen. Das brauche Geduld, Spaß am Experimentieren und gute Kooperationen mit vielfältigen Partnern. Auch deshalb war die offene Plenarrunde zum Thema "Herausforderungen des Kulturwandels - Was brauchen soziale Unternehmen, um zukunftsfähig zu sein?" mit Expertinnen und Experten aus den Spitzenverbänden, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (Frauenhofer IAO) ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung um eine attraktive Arbeitswelt 4.0 für die Sozialwirtschaft.
Wolfgang Husemann (Leiter der Gruppe "Europäische Fonds für Beschäftigung" im BMAS) betonte: "Jedes einzelne ESF-geförderte Projekt ist ein europäischer Botschafter!" Allein in Deutschland fördere der ESF 65.000 Projekte, die den sozialen Gedanken Europas vor Ort voranbrächten und an denen man konkret erkennen könne, was die EU für die Menschen in Europa leistet." Er machte deutlich, dass das ESF-Programm "rückenwind+" hier gerade auch in Bezug auf den vom BMAS mitinitiierten Diskurs um ein attraktives Arbeitsfeld 4.0 eine Vorreiterrolle einnehme.
So gäbe es zwar im BMAS bereits eine eigene Digitale Agenda, aber um die Lücke zwischen einer theoretischen Metaebene und der Realität in der Arbeitswelt zu schließen, brauche es auch Programme wie "rückenwind+", so Husemann und er betonte: "Gerade das Thema 'Digitalisierung' müssen wir im ESF massiv ansteuern". Der gemeinsame Auftrag der Fachkräftesicherung bliebe dabei bestehen. Ziel sei eine Arbeitswelt der Zukunft, in der die Menschen gerne zur Arbeit gingen. Gelingen könne dieser aber nur, "wenn wir verstehen, dass etwa hierarchische Führungsstrukturen in einer Arbeitswelt 4.0 auf Dauer keinen Bestand haben", sagte Husemann. Von den in "rückenwind+" aktuell erprobten Pilotprojekten profitierten deshalb Sozialwirtschaft als auch BMAS gleichermaßen. Insbesondere mit Blick auf zukünftige Gesetzgebung stelle sich die Frage: Was können wir übernehmen? Wie können wir die Arbeitswelt sozial flankieren? "Das ist das Rädchen, das uns fehlte, und das ist "rückenwind+", hob Husemann hervor.
Digitale Transformation ernst nehmen
Dr. Gerhard Timm (Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V.) dankte dem BMAS für die partnerschaftliche Ausgestaltung des Programms und unterstrich insbesondere die hilfreiche Flexibilität, die Themen der Richtlinie im Zuge der Umsetzung bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Die Möglichkeit, zielgerichtet auf aktuelle Herausforderungen reagieren zu können, sei gerade in Bezug auf das Themenfeld der digitalen Transformation der Arbeitswelt ein wichtiger Unterstützungsmoment und "trifft ins Herz der Probleme in der Sozialwirtschaft", so Timm. Das ESF-Programm "rückenwind+" arbeite mit seiner Themensetzung an den für die Sozialwirtschaft brennenden Fragen. Zugleich forderte Timm, die Veränderungsanforderungen einer Arbeitswelt 4.0 und der Digitalisierung in sozialwirtschaftlichen Unternehmen und Organisationen ernster zu nehmen. Der Fachkräftemangel in sozialen Berufsfeldern werde sich in den kommenden Jahren eher noch zuspitzen, so Timm. Modelle zu entwickeln, um die Arbeit in sozialen Berufen attraktiver zu machen und als Freie Wohlfahrtpflege konkurrenzfähig zu bleiben, werden somit drängender.
Grundannahmen, Werte und Bilder neu definieren
Auch Katharina Hochfeld (Leiterin Kompetenzfeld Unternehmenskultur und Transformation, Center for Responsible Research and Innovation, Fraunhofer IAO) plädierte dafür, sich der digitalen Transformation zu öffnen. "Das ist eine 4. Revolution, die wie die Revolutionen vor ihr Wirkungen haben wird", so Hochfeld. Das beträfe die politische Ebene ebenso wie die Organisationsebene.
Hochfeld stellte aus wissenschaftlicher Sicht heraus, dass ein hierfür notwendiger "Kulturwandel" einen ganzheitlichen Wandel erfordere, der mehrere Ebenen der Unternehmenskultur umfasse - analog einem "Eisberg". Oft vollzögen sich Veränderungsprozesse auf den sichtbaren Ebenen, "was aber in den in den Köpfen steckt - und das schon mehrere Jahrzehnte - wird nicht mitgedacht, Grundannahmen, Werte und Bilder, die alle teilen, nicht neu definiert." Notwendige Innovationsprozesse funktionierten dabei nicht linear. Innovationszyklen würden, gerade auch durch die Digitalisierung, vielmehr immer schneller, Wissen habe immer kürzere Halbwertzeiten. "Organisationen müssen deshalb flexibel genug sein, um auf neue interne und externe Impulse zu reagieren", warb Hochfeld. Als zentrale Erfolgskriterien für Kulturwandel nannte Hochfeld eine "Führungsebene, die überzeugt ist" und gleichzeitig eine intensive Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zulässt. So könne eine der zentralen Fragen beantwortet werden: "Wie gestalten wir die Digitalisierung eigentlich menschenzentriert und wertebasiert?" Die Sozialwirtschaft habe hier ein großes Alleinstellungsmerkmal und sei damit ein wichtiger Ansprechpartner in der Ausgestaltung einer Arbeitswelt 4.0 - auch für die Wissenschaft, so Hochfeld.
Herausforderungen des Kulturwandels - Erfahrungen und Antworten aus der Praxis
Veränderungsprozesse funktionierten ähnlich einem Mobile, fasste Michael Zirlik (Projektleiter "WIND - Werte Innovation Diversity" ) seine Erfahrungen zusammen: "Ich zupfe an einer Stelle und plötzlich vibriert es dort, wo ich es gar nicht für möglich gehalten hatte". Menschen müssten auch nicht im Grunde ihres Wesens verändert werden, um Veränderung zu gestalten. Es gehe vielmehr darum, Menschen mit unterschiedlichen Werten ins Gespräch bringen, damit sich Kultur deutlich verändern kann. Zirlik betonte, dass es Vielfalt erfordere, um innovativ zu sein. "Neue Ideen brauchen Unterschiedlichkeit" und vielfältige Meinungen. Um hier dann nachhaltige Veränderungen zu erreichen, bedürfe es einer kritischen Masse an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die diese weitertragen. Zirlik erinnerte daran, eine Personalkontinuität abzusichern. Das gelte insbesondere für Projektverantwortliche, deren Wissen sonst mit Projektende aus dem Unternehmen abfließe.
100 % Kulturwandel könn man deshalb gar nicht erreichen, unterstrich auch Juana Leis (Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg e.V., Projektleiterin "Unternehmens- und Führungskultur! Entwickeln. Stärken. Erleben" ). Veränderungsprozesse blieben immer in Bewegung - mit offenem Ende. Die Herausforderung bestehe darin, gleichermaßen Leitungen mitzunehmen, als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transparent einzubinden, um so gemeinsame Haltungen und Visionen zu entwickeln. Hingegen: "Keine Kommunikation, weitere Hierarchien und sehr viele Strategien, ohne diese zu hinterfragen", sei sicherlich der beste Weg, um keine Veränderungen zu bewirken, so Leis.
Mehr Mut zur Vernetzung auch mit externen Partnern und eine größere Bereitschaft, von anderen zu lernen, empfahl Leis. "Wir machen das selbst, indem wir Exkursionen anbieten und rufen bei Unternehmen an, von denen wir begeistert sind". Auf diesem Wege habe die Caritas bereits hilfreiche Kooperationen geknüpft.
Zugleich gelte es auch, auf die "Zweifler" zu hören, betonte Michael Ney (DRK Landesverband Sachsen-Anhalt e.V., Projektkoordinator/Projektcoach #diRK - digitales Rotes Kreuz ). "Wir müssen herausfinden, was im Bereich des digitalen Wandels tatsächlich gebraucht wird, um diesen menschlich zu gestalten". Dies sei eine riesengroße Baustelle, eine Revolution, die die Arbeitswelt komplett verändern werde, so Ney. "Hier brauchen wir vor allem noch etwas Zeit." Die aktuelle ESF-Förderperiode bis 2020 würde da nicht ausreichen. Das DRK beispielsweise sei keine Insel mehr: "Wir suchen uns Expertinnen und Experten, wir suchen uns Leute, die davon Ahnung haben, was wir gerne machen wollen: Hochschulen, Medienunternehmen". Die Verknüpfung der Expertise von Fachkräften von der Basis, Projektideen und Fachleuten aus den Studiengängen Crossmedia oder Mensch-Technik-Interaktion seien hier ein Anfang. "Solche Netzwerke sind nicht nur intelligent, sondern auch kostengünstig", betonte Ney. Er forderte dabei ein Mindestmaß an Geduld: "Wir lernen gerade was, wir müssen das noch nicht können. Z. B. 'New Work' 1 - wir müssen erstmal lernen, damit umzugehen", so Ney.
Ziel des ESF- Programms "rückenwind+" ist es, die Beschäftigungsfähigkeit von Beschäftigten in der Sozialwirtschaft in Verbindung mit einer integrierten und nachhaltigen Personal- und Organisationsentwicklung in den Einrichtungen und Verbänden zu fördern und zu erhalten. Gefördert werden integrierte Vorhaben im Hinblick auf die Personalentwicklung zur Verbesserung der Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit und die Organisationsentwicklung zur Verbesserung der Demografie-Festigkeit der Unternehmen.
"rückenwind+" ist das Nachfolgeprogramm von "rückenwind - Für die Beschäftigten in der Sozialwirtschaft" aus der ESF-Förderperiode 2007-2013.
Weitere Informationen zum Programm rückenwind+ finden Sie auf der Website der Regiestelle, Kontakt: regiestelle@bag-wohlfahrt.de
Fußnoten
1 New Work ist ein englischer Begriff, den der austro-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann entwickelte und in der deutschen Übersetzung "Neue Arbeit" bedeutet. Die Bezeichnung Neue Arbeit ergibt sich aus der heutigen Konsequenz der Globalisierung und Digitalisierung und welche Auswirkungen diese Konsequenzen auf die Arbeitswelt haben. zurück