Die Zukunft der Pflege menschlich gestalten. Das rückenwind+-Projekt "#diRK - digitales Rotes Kreuz" zeigt Chancen auf und baut Ängste ab.
- Datum
- 26.04.2019
"Wird es meinen Job in fünf Jahren noch geben? Werde ich in meinem Alter mit den technischen Entwicklungen mithalten können? Wie bleibt die Menschlichkeit erhalten, die in der Pflege doch der eigentlich tragende Wert ist?" Fragen wie diese haben Pflege(fach)kräfte, wenn es um das Thema Digitalisierung der Pflege geht. Welche Erfahrungen gibt es bereits zur Qualifizierung und Begleitung von Fach- und Führungskräften im digitalen Wandel in der Arbeitswelt der Pflege?
Das rückenwind+-Projekt "#diRK - digitales Rotes Kreuz" des DRK Landesverbands Sachsen-Anhalt im Verbund mit dem DRK Kreisverband Sangerhausen und dem DRK Kreisverband Östliche Altmark nimmt die Befürchtungen und Ängste des Pflege(fach)personals im Hinblick auf die Digitalisierung ernst. Das Projekt führt bis Ende 2020 Mitarbeitende der Altenpflege Schritt für Schritt an die Chancen von Zukunftstechnologien heran. Ziele des Projekts sind die Entlastung des Pflegepersonals, die Erhöhung der Attraktivität von Arbeitsplätzen in der Pflege sowie die Unterstützung der Personalgewinnung durch den Einsatz digitaler Medien. Denn wie viele andere Arbeitswelten erfährt auch die Pflege derzeit einen radikalen Wandel. Und die Sozialunternehmen müssen darauf reagieren.
Dazu hat die ESF-Regiestelle des Programms rückenwind+ Michael Ney, Projektkoordinator/Projektcoach, und Mareike Sorge, Projektmitarbeiterin des Projekts "#diRK - digitales Rotes Kreuz" im DRK Landesverband Sachsen-Anhalt e.V., befragt.

Herr Ney, im DRK Landesverband Sachsen-Anhalt haben Sie im April 2018 das Projekt "#diRK - digitales Rotes Kreuz" gestartet. Kennen Sie die Ängste der Mitarbeitenden um den eigenen Arbeitsplatz im Zuge der digitalen Transformation in Pflegeberufen?
Genau diese Befürchtungen und Ängste sind Gründe, warum wir uns für ein über den ESF gefördertes rückenwind+-Projekt beworben haben. Für unser Projekt heißt das, dass wir im ersten Schritt ganz viel Aufklärungsarbeit leisten und die Bandbreite der Digitalisierung von der Pflegedokumentation bis hin zur Robotik aufzeigen. Bei den Befürchtungen und Ängsten sowie auch teilweise bei den Erwartungen und Hoffnungen geht es oft gar nicht so sehr um tatsächliches Wissen oder gar eigene Erfahrung. Vielmehr schwingen Eindrücke mit, die sich unter anderem aus den Medien speisen. Unser Ziel ist es, dass die Teilnehmenden kennenlernen, was technisch wirklich möglich ist und dass sie ausprobieren, welche digitalen Tools und Arbeitsmethoden realistisch und sinnvoll für ihr Arbeitsfeld sind.
Sie setzen mit Ihrem Projekt konsequent und bereits sehr erfolgreich auf Vernetzung und Kooperation. Was waren die Gründe dafür?
Kurz gesagt, wir können diesen großen und weiten Arbeitsauftrag nicht allein bewältigen. Wenn wir nur als DRK Landesverband antreten würden, wären wir zwischen der Akquise von Teilnehmenden, der Entwicklung von Inhalten und der Begleitung von Praxisprojekten schnell verloren. Gleichzeitig müssten wir uns als Team auch noch das Fachwissen zum Thema Digitalisierung mit den Besonderheiten in der Pflege aneignen. Wir sind ein multiprofessionell aufgestelltes Team aus den Bereichen Gesundheitswissenschaft, Medienbildung und Sozialökonomie und können das komplexe Vorhaben nur als Verbund bewältigen. Daher führen wir das Projekt gemeinsam mit den DRK Kreisverbänden Östliche Altmark und Sangerhausen durch. Gleichzeitig war sehr schnell klar, dass wir externe Expertise hereinholen wollen. Dazu gehören sowohl Kooperationen mit der (Medien)Wirtschaft, aber auch mit der Wissenschaft wie z.B. dem Projekt hcFormat an der medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Thema Robotik in der Pflege. Hier befassen wir uns etwa mit dem "Mythos des Roboters in der Pflege".
Frau Sorge, als Medienbildnerin und Sozialwissenschaftlerin fallen die Kooperationen im Projekt wesentlich in Ihren Arbeitsbereich. War es schwierig, externe Kooperationspartner/innen zu finden und zu überzeugen?
Eigentlich nicht. Wir haben geschaut, welche Partner im Hochschulbereich hier in Sachsen-Anhalt für uns inhaltlich in Frage kommen. Digitalisierung ist ja kein abschließbares Projekt, das wir Ende 2020 als erledigt betrachten können. Unsere vorrangig regionale Orientierung hat damit zu tun. Wir wollen Netzwerke aufbauen und diese unseren teilnehmenden Verbänden niedrigschwellig auch über die Projektlaufzeit hinaus zugänglich machen. Damit schaffen wir nachhaltige Strukturen. Zugang zu potenziellen Partnern und Partnerinnen haben wir darüber gefunden, dass wir konsequent auf alle thematisch relevanten Veranstaltungen gegangen sind. So haben wir den "bürgerschaftlichen Dialog" des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Integration des Landes Sachsen-Anhalt ebenso genutzt wie das Fachgespräch zur "Digitalen Agenda" des Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung. Wir sind auf Pflegehackathons gegangen (Ein Hackathon ist eine Veranstaltung, auf der Teams für vorgegebene Problemstellungen in einer bestimmten Zeit kreative und innovative Lösungen in Form von Hardware, Software oder anderen Produkten finden.), um dort unsere Fragestellungen einzubringen. Weiterhin stehen wir als DRK in Sachsen-Anhalt als Gesprächspartner an möglichst vielen Orten zum Thema "Pflege und Digitalisierung" zur Verfügung.
Wobei helfen Ihnen die Kooperationen?
Über die Kooperationen bekommen unsere Teilnehmenden Zugang zu Erprobungsräumen, um Technik auszuprobieren und zu diskutieren. So entsteht eine win-win-Situation, die es uns ermöglicht, qualitativ hochwertige Technik erlebbar zu machen und Fachimpulse aus Forschung und Wirtschaft in unser Projekt zu integrieren. Bei unserem Auftaktmodul, das wir zusammen mit dem Projekt hcFormat am Pflegeforschungszentrum der Uni Halle/Saale durchgeführt haben, konnten die Teilnehmenden Technologien selbst testen: vom computergesteuerten Pflegebett über ein Virtual-Reality-Programm zur Autonomie im Alter bis hin zum Roboter Pepper (humanoider Roboter, der darauf programmiert ist, Menschen und deren Mimik und Gestik zu analysieren und auf diese Emotionszustände entsprechend zu reagieren) und einem Teleassistenzsystem. Der Dialog, der dann mit den Kollegen und Kolleginnen vom Projekt hcFormat entstand, machte deutlich, wie sehr wir gegenseitig aufeinander angewiesen sind.

Wie gehen Sie mit den Unsicherheiten hinsichtlich der Digitalisierung in der Pflege um?
Wir bekommen in der Qualifizierung die Bestätigung für unsere Ausgangsannahme, dass es eine Reihe von Befürchtungen und Ängsten gibt, die die Arbeitswelt und damit aber auch die Lebenswelt der Teilnehmenden betrifft. Gerade von den Einrichtungsleitungen war die wesentliche Frage bei den ersten Begegnungen im Projekt: "Wir haben verstanden, dass wir an der Digitalisierung nicht vorbeikommen, aber wie gelingt es uns, unsere Mitarbeitenden mitzunehmen - besonders die, die Angst haben, das nicht zu schaffen?" Dafür versuchen wir im Projekt für alle Teilnehmenden Strategien zu finden. Unsere Teilnehmenden sollen ja mit dem Projekt und aus dem Projekt heraus als Multiplikatoren und Multiplikatorinnen wirken. Da wird ganz schnell klar, hier geht es nicht nur um die Technik, hier geht es in erster Linie um die Menschen, die mit der Technik arbeiten.
Herr Ney, wenn Sie auf das Projekt "#diRK - digitales Rotes Kreuz" schauen, wo sehen Sie die größte Herausforderung?
Unsere größte Herausforderung ist sicherlich, Mensch und Digitalisierung zusammenzubringen, ohne in einen Technikhype zu verfallen. Das ist eine Gefahr, die ich deutlich sehe, wenn ich auf das Digitalisierungsfeld schaue. Da dreht es sich oft darum, was technisch machbar ist. Im "#diRK-Projekt" beziehen wir auch die Realität des Arbeitsalltags ein, und diese ist bestimmt von wenig finanziellen Mitteln für technische Neuerungen, hohen Arbeitsbelastungen der Pflege(fach)kräfte, die sich dann auch noch zusätzlich mit der neuen Arbeitswelt auseinandersetzen müssen. Ich sehe unsere Arbeit als eine Art Dolmetscher-Tätigkeit. Auf der einen Seite gibt es die hippen Technikfreaks und auf der anderen Seite unsere Pflege(fach)kräfte vor Ort, die einen verdammt guten Job oft an der Grenze der Belastbarkeit machen. Im Projekt versuchen wir diese Gruppen zusammenzubringen und stellen fest, dass es gelingt. Unsere Fachkräfte haben eine große Offenheit für das Thema "Digitalisierung", auch dafür, z.B. das Thema Robotik zu entmystifizieren. Sie erkennen: "Da gibt es einen Nutzen in der Maschine, aber die Maschine bedroht uns nicht." Übrigens dürfen wir eine dritte Gruppe nicht vergessen: Wir wollen unsere Fachkräfte als Multiplikatoren und Multiplikatorinnen in ihren Einrichtungen dazu befähigen, Pflegende und Angehörige mit ihren jeweiligen Sorgen und Ängsten ernst- und mitzunehmen. In der Gesamtheit des Projekts entsteht dann das, was wir uns als DRK in Sachsen-Anhalt als Hashtag auf die Fahne geschrieben haben: #Digitalisierung_menschlich_gestalten.
Welche Empfehlungen würden Sie anderen geben, die sich in den Bereich Digitalisierung in der Pflege aufmachen wollen?
Jede konkrete Empfehlung wäre ein Fehler, weil es genau um das Gegenteil geht. Was wir tun, ist in erster Linie hin- und zuzuhören und ins Gespräch zu kommen, das wäre auch unser erster Rat. Dazu gehört natürlich die direkte Verortung unserer Teilprojektpartner/innen in den Kreisverbänden Östliche Altmark und Sangerhausen in der Praxis. Bei der landesweiten Fläche, die wir bespielen und der Vielfalt der Partner/innen, mit denen wir arbeiten, hat es sich als erfolgreich erwiesen, dass wir eine enge Abstimmung und Koordination mit den drei Teams auf der operativen Ebene praktizieren und zwei Mal im Jahr die Geschäftsführungsebene einbeziehen. Wir setzen auf eine verbindliche Struktur und wenden darin agile Arbeitsmethoden an. Der zweite Rat ist, mutig zu sein. Natürlich hatten wir im Ohr und im Kopf, dass wir unsere Fachkräfte kennen, dass wir doch wissen, was wir ihnen zumuten können. Dann haben wir aber festgestellt, dass unser Blick viel enger ist als das, was dann tatsächlich bei unseren Teilnehmenden ankommt. Wichtig ist uns daher, die neuen Methoden, die neuen Arbeitsmodelle für die konkreten Bedarfe zu übersetzen.
Können Sie zum Schluss noch eine Einschätzung geben, wie das Projekt nach dem Ende weiterwirken wird?
Eigentlich wirkt es jetzt schon weiter. Aus dem rückenwind+-Projekt "#diRK - digitales Rotes Kreuz" sind über die projektbezogenen Themen hinaus bereits weitere Kooperationen entstanden. Daraus haben wir den Projektbereich "Wohlfahrt 4.0" im Landesverband entwickelt, der auch weitere Zielgruppen anspricht. Das ist uns gelungen, weil wir Themen identifiziert und diese an die Fachbereiche herangetragen haben und auch die Fachbereiche an uns herangetreten sind: "Ihr macht doch Digitalisierung, könnt Ihr uns nicht auch unterstützen?" Dann sind wir über das Projekt hinaus zum Gesprächspartner geworden und versuchen, das Thema Digitalisierung in der Wohlfahrt insgesamt aktiv mitzugestalten. Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte, würde ich gern noch eine Art Beirat oder Dialogrunde ins Leben rufen, mit der wir die unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen ins Gespräch bringen. Dazu würde ich Politiker und Politikerinnen genauso gern einladen wie unser Jugendrotkreuz oder das Senioren-Kolleg an der Uni Halle.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das ESF-Programm "rückenwind - Für die Beschäftigten und Unternehmen in der Sozialwirtschaft" (kurz: rückenwind+) ist ein im Jahr 2015 gestartetes Förderprogramm zur Fachkräftesicherung in sozialen Berufsfeldern. Ansatzpunkt ist die Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen und Verbänden der gemeinnützigen Sozialwirtschaft. Ziel der Förderung ist die Verbesserung der Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Beschäftigten in der Sozialwirtschaft in Verbindung mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Organisationsstrukturen in den Einrichtungen, Diensten und Verbänden. Das Förderprogramm wurde gemeinsam vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der BAGFW entwickelt. Gefördert wird es aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und aus Bundesmitteln.
Weitere Informationen zum Programm rückenwind+ finden Sie auf der Website der Regiestelle Kontakt: regiestelle@bag-wohlfahrt.de